Verena Freyschmidt - Scapes

von Anne-Simone Krüger

 

Wie ein moosartiges Geflecht breiten sich amorphe Formen über die Wand aus. Sie wachsen als offene Gefüge, deren Ränder zerklüfteten Küstenlinien gleichen. Die Farbwelt aus fein aufeinander abgestimmtem Anthrazitgrau, Samtschwarz, Waldboden-Grün, Blaugrau, Ockerrot und gebrochenem Weiß verortet die organisch geformten Gebilde assoziativ im Bereich der Natur. Ideen von Baumrinde, von Flechten und Steinmaserungen keimen im Geiste auf. Tritt man näher an die Arbeiten der Künstlerin Verena Freyschmidt heran, so zeigt sich, dass der Makrokosmos der Gesamtform jeweils einen Mikrokosmos an feinen Strukturen birgt. Farbverläufe und Farbverdichtungen, mit weißer Farbe gesetzte Schraffuren und mit Tusche gezeichnete Strichfolgen fügen sich zu einer Gestaltung, die abstrakt ist und zugleich die Phantasie beflügelt. Wie beim Betrachten von Wolken lassen sich darin ganze Welten entdecken.

Das kleinste Element der rhizomartigen Formen bilden Striche, unzählige Striche. In ihrer scheinbar unendlichen Wiederholung verdichten sie sich zu einzelnen Formationen, die gemeinsam in einem Gesamtgefüge verschmelzen. Diese übergeordnete Struktur erinnert in ihrem Aufbau an Fraktale. Damit ist ein geometrisches Muster gemeint, das eine hohe Selbstähnlichkeit aufweist, was dann der Fall ist, wenn ein Gebilde aus verkleinerten Kopien seiner selbst besteht. Die Kopien müssen dabei keineswegs identisch sein, die fraktale Geometrie lässt sich auch auf natürliche Elemente wie Bäume oder Küstenlinien anwenden. Diese Analogie erklärt die seltsame Vertrautheit, die von Verena Freyschmidts Werken ausgeht – denn die ihnen innewohnende Ästhetik ist eine uns Menschen seit Urzeiten bekannte, bestimmt sie doch den Aufbau der Welt um uns herum. So erforscht die Künstlerin mit ihren Werken die Zusammenhänge hinter allen Dingen. Ohne abbildend im Sinn realistischer Malerei zu werden, thematisiert sie die grundlegenden Strukturen, die sich im Kleinen wie im Großen stets wiederholen.

„Schöpfung oder Reflexion sind hier nicht originalgetreuer 'Abdruck' der Welt, sondern wirkliche Erzeugung einer Welt, die der ersten ähnelt, sie aber nicht kopieren, sondern verständlich machen will“, formulierte einst der französische Philosoph Roland Barthes mit Blick auf den Strukturalismus.1 Er könnte damit auch die Arbeiten von Verena Freyschmidt gemeint haben. Ihre im Malprozess erschaffenen Strukturen thematisieren grundlegende Prinzipien des Wachsens und Werdens und liefern damit durch das Medium der Kunst Erkenntnisse über die Welt. Gleichzeitig verweisen diese Arbeiten auf eine Ästhetik, die der Natur bereits zugrunde liegt. Im Kunstwerk kommt sie durch diese Akzentuierung verstärkt zur Geltung.

Das Streben der Künstlerin nach Erkenntnis spiegelt sich auch im Prozess der Werkentstehung wider. So entwickeln sich die Werke nicht aus dem Umriss, sondern vielmehr aus der Form selbst heraus. Ausgangspunkt der Arbeiten sind Farbschüttungen auf Papier. Diese werden als Monotypie, also Abklatsch-Verfahren, auf ein weiteres Papier oder, wie im Falle der Wandarbeit, direkt auf die Wand aufgetragen und dienen als Ausgangspunkt für die weiteren gestalterischen Prozesse. Interessant ist dabei die Nutzbarmachung des gezielt eingesetzten Zufalls, denn die Farbschüttungen entziehen sich der vollständigen Kontrolle durch die Künstlerin. Die so entstehenden Strukturen bearbeitet Verena Freyschmidt in einem langwierigen Prozess unendlicher Wiederholungen weiter.

Strich für Strich vollführt die Hand eine annähernd ähnliche Bewegung, die doch jedes Mal minimale Abweichungen aufweist. Das prozesshafte Arbeiten denkt die Werkentstehung als Handlung – die Werkgenese ist nicht weniger wichtig als das Resultat. Denn die Wiederholung führt zu einem Zustand höchster Konzentration, mehr noch zu einer Art der Kontemplation, die notwendig ist, um die Werkidee stetig weiter zu entwickeln.

Die Nutzbarmachung des kontrollierten Zufalls für die Kunst hat Tradition. Bereits der Renaissance-Maler Sandro Botticelli erkannte dessen Potenzial. So berichtet Leonardo da Vinci über seinen Kollegen, dieser habe einen mit Farbe vollgesogenen Schwamm an die Wand geworfen und die auf solche Weise entstandenen Flecken als Inspirationsquelle verwendet. In den Strukturen habe er „ganze Kosmen [...], Klippen, Meere, Wolken und Wälder erkannt.“2 Vor etwas mehr als hundert Jahren erlebte der Zufall eine neue Blüte: Die Surrealisten setzten ihn systematisch und methodisch ein, als sie mit alternativen Methoden des Farbauftrags wie der Frottage, der Grattage, der Décalcomanie oder der Collage experimentierten.3 Verena Freyschmidt treibt das Spiel mit dem Zufall nun um ein Vielfaches weiter. In ihren Arbeiten erzeugt sie eine Synthese aus dem für die Kunst fruchtbar gemachten, kreativen Potential des Zufalls und dem aus der Natur abgeleiteten Muster organischen Wachstums. Diese Verschmelzung eröffnet uns Betrachtenden ein sinnliches Verstehen von der äußeren Welt zugrundeliegenden Systemen. Immer wieder umkreist sie in vielfachen Varianten ein künstlerisches Forschungsfeld und treibt so einen Prozess voran, der sich vielfach in den Werkserien ihrer Arbeit niederschlägt.

So beschäftigt sich die Serie „Wood“ ebenfalls mit dem Thema des Wachstums. Statt künstlich erzeugter Strukturen dienen hier natürlich gewachsene als Ausgangsmaterial: Als Malgrund verwendet werden Holzplatten. Ihre auffälligen Maserungen werden mit dem Bleistift erweitert und verdichtet. So entstehen neue Verbindungen und letztlich formhafte Gebilde. Diese sind jedoch, im Gegensatz zu den wuchernden freien Formen, im klassischen Tafelformat gehalten. Die übrigen Partien der Holzplatte um die Form herum werden mit weißer Acrylfarbe lasierend übermalt, die Struktur verbleibt in ihrem natürlichen Habitat.

Eine invertierte Version der mit dem gezielten Zufall agierenden Wand- und Papierarbeiten stellt die ebenfalls auf Holz gearbeitete Serie „Nachtschatten“ dar. Weiße Monotypien sind hier auf mit schwarzer Farbe überdeckten Holzplatten abgedruckt und mit zahllosen Schichten von Buntstiftzeichnungen weitergeführt. Assoziationen an durch ein Fernrohr betrachtete Galaxien mögen hierbei genauso aufkeimen wie jene an Mikroorganismen unter einem Mikroskop. Klein oder groß, Mikrokosmos oder Makrokosmos? Die Wahl der Perspektive resultiert aus den zufällig geknüpften assoziativen Bezügen der Betrachter.

Dieses Oszillieren zwischen dem Kleinen und dem Großen sowie die konstitutive Kraft, die der Zufall darin spielt, besitzen eine erstaunliche Entsprechung in den Naturwissenschaften, wo der Begriff des Zufalls von der Physik längst akzeptiert ist. Und nicht nur das: „eine der grundlegenden physikalischen Theorien, die Quantenmechanik, basiert auf dem Begriff der Unbestimmtheit“.4 Interessant dabei ist, dass sich diese Unschärfe im Mikrobereich auf der Makroebene zu exakten Gesetzmäßigkeiten fügt.5 Auch hier ergeben sich wiederum Parallelen zu Verena Freyschmidts Arbeiten, denn sie nutzt den Zufall lediglich im Bereich des bildimmanenten Mikrokosmos, also in der Entstehung der einzelnen Fragmente, deren Addition die Gesamtform ergibt. In verschiedenen Schichten liegen sie teils über- und teils nebeneinander und erzeugen, obwohl kein perspektivischer Raum konstruiert wird, einen durch die Schichtung von Flächen geschaffenen Raumeindruck. Dieser räumliche Eindruck verstärkt sich noch durch den Schattenwurf der Papierarbeiten, welcher durch den Abstand des Papiers zur Wand entsteht. Die Gattungsgrenzen werden so spielerisch-leicht überschritten. Haben wir es hier mit Bildern oder Objekten, Malerei oder Zeichnung zu tun?

Letztlich sind solche Festlegungen marginal. Viel wesentlicher ist der sinnlich-ästhetische Zugang zu essentiellen Prinzipien des Seins, der den Arbeiten innewohnt. Sie spiegeln eine Suche nach Erkenntnis wider, ein strichweises Annähern an die grundlegenden Prinzipien der Welt. Der Titel „Scapes“ ist somit Programm. Von „Landscape“ hergeleitet meint er Landschaft im eigentlichen Sinne als die Oberfläche der Erde, aber genauso als Umrisslinie und als Form. Der Titel reflektiert damit genau die Offenheit der Arbeiten zwischen Geometrie und Landschaft, Naturwissenschaft und Zufall, Programmatik und freier Assoziation.

 

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1 Roland Barthes: Die strukturalistische Tätigkeit, In: Kursbuch 5. Mai 1966, S. 190-196. Roland Barthes beschreibt hier seine Version des Strukturalismus. Der Begriff Strukturalismus selbst bezeichnet Methoden, welche Strukturen und Beziehungen in kulturellen Symbolsystemen untersuchen.

2 Leonardo da Vinci, Trattato della pittura, hrsg. von Ettore Camescasca, Mailand 1995, §57, S. 54, zitiert nach Horst Bredekamp, Der Bildakt, Berlin 2015, S. 312.

3 Vgl. Kito Nedo, Kalkulierte Kontrolle, in: Art. Das Kunstmagazin, Juli 2018, S.18–37.

4 Manfred Eigen: Vorwort zur deutschen Ausgabe. In: Jacques Monod, Zufall und Notwendigkeit. Philosophische Fragen der modernen Biologie, München 1972, S. XI.

5 Ebd.